Eine wichtige Säule im New Legislative Framework (NLF) ist das Prinzip der freiwilligen Anwendung harmonisierter Normen (hEN) im Kontext des Konformitätsbewertungsverfahrens, um die Erfüllung der gesetzlich vorgeschriebenen grundlegenden Anforderungen nachzuweisen (z. B. RoHS, EMV, elektrische Sicherheit). Bei der Anwendung oder teilweisen Anwendung der hEN darf der Hersteller die Vermutung anstellen, die von den hEN abgedeckten grundlegenden Anforderungen der jeweiligen Harmonisierungsrechtsvorschriften zu erfüllen. Voraussetzung ist allerdings, dass diese hEN im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht sind. An dieser Stelle wird es kompliziert, da die hEN auf dem Weg ins Amtsblatt das sog. „HAS Assessment“ passieren müssen. Dies erfolgt auf Basis von Art. 10 (5) Normungsverordnung 1025/2012.
An dieser Stelle ein Hinweis: Die neue Produktsicherheitsverordnung 2023/988 (kurz: GPSR) verweist in Art. 7 auf „europäische Normen“. Eine Europäische Norm ist gemäß der Normungsverordnung (Art. 2 Abs. 1 Buchstabe b)) wie folgt definiert:
„eine Norm, die von einer europäischen Normungsorganisation angenommen wurde“.
Der Unterschied zur harmonisierten Norm besteht darin, dass Europäische Normen ohne ein Mandat (Auftrag) der Kommission von den Normungsorganisationen CEN, CENELEC sowie ETSI erarbeitet werden. Im Kontext der GPSR wurde hier die Normungsverordnung geändert und der Art. 10 Abs. 7 eingefügt, in dem Europäische Normen zur GPSR auch im EU-Amtsblatt veröffentlicht werden sollen (bisher noch nicht erfolgt).
Die Kommission hat sich bei der Erarbeitung neuer oder überarbeiteter Binnenmarktvorschriften eine Ermächtigung für ein neues Instrument einräumen lassen, welches in der breiten Anwenderschaft noch nicht gebührend wahrgenommen wird: die sog. „Gemeinsamen Spezifikationen (engl: common specifications)“.
So heisst es beispielsweise in der neuen Maschinenverordnung 2023/1230 in Artikel 20 Abs. 3:
„Die Kommission kann Durchführungsrechtsakte zur Festlegung gemeinsamer Spezifikationen, die die technischen Anforderungen abdecken, erlassen, die ein Mittel zur Erfüllung der grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen gemäß Anhang III für in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallende Produkte bieten.
Diese Durchführungsrechtsakte werden nur erlassen, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind:
a) Die Kommission hat gemäß Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 eine oder mehrere europäische Normungsorganisationen aufgefordert, harmonisierte Normen für die grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen gemäß Anhang III zu erarbeiten, und
i) der Antrag wurde nicht angenommen, oder
ii) die Dokumente der harmonisierten Normen, die Gegenstand dieses Auftrags sind, werden nicht innerhalb der gemäß Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 festgelegten Frist erarbeitet oder
ii) die Dokumente der harmonisierten Normen entsprechen nicht dem Auftrag; und
b) im Amtsblatt der Europäischen Union ist im Einklang mit der Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 kein Verweis auf harmonisierte Normen veröffentlicht worden, die die einschlägigen grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen nach Anhang III abdecken, und es ist nicht zu erwarten, dass ein solcher Verweis innerhalb einer angemessenen Frist veröffentlicht wird.
Diese Durchführungsrechtsakte werden gemäß dem in Artikel 48 Absatz 3 genannten Prüfverfahren erlassen.“
Unter welchen Voraussetzungen Durchführungsrechtsakte erarbeitet und veröffentlicht werden, ist im KANBrief 2/23 hinreichend beschrieben (siehe Link unten) und wird hier nicht näher beschrieben.
Diese gemeinsamen Spezifikationen sollen neben den harmonisierten Normen ein weiteres Instrument darstellen und somit auch zur Unterstützung der Harmonisierung von Produktanforderungen dienen. Neben der Maschinenverordnung kennt auch der Cyber Resilience Act 2024/2847 sowie die neue KI-Verordnung 2024/1689 dieses Instrument der gemeinsamen Spezifikationen.
Auch die Medizinprodukteverordnung 2017/745 sowie die IVDR 2017/746 kennen diesen Begriff. Diese basieren allerdings auf ausdrückliche Vorgaben in diesen Rechtsvorschriften. Es gab hierfür keine konkreten Normungsaufträge an CEN und CENELEC, da die Rechtstexte grundsätzlich eine eigenständige Ausarbeitung dieser gemeinsamen Spezifikationen durch die Kommission vorsahen (siehe MDCG 2021-5 Rev. 1 „Guidance on standardisation for medical devices”, Link unten eingefügt).
Grundsätzlich sollen gemeinsame Spezifikationen als sog. "exceptional fall back solution" (in der deutschen Fassung „außergewöhnliche Ausweichlösung“) zur Anwendung kommen. Die Durchführungsrechtsakte dürfen somit nur erlassen werden, wenn z. B. gemäß Maschinenverordnung (siehe oben) bestimmte Bedingungen erfüllt sind.
Das Problem besteht darin, dass die oben genannten Einzelrechtsakte keine konkreten Hinweise enthalten, wie die Kommission die konkreten, technisch anspruchsvollen gemeinsamen Spezifikationen erarbeiten will und wie das erforderliche Fachwissen sichergestellt werden soll.
Deshalb wäre es sinnvoll, einen einzigen horizontalen Rechtsakt über die Verfahren zur Erarbeitung, zum Erlass und der Veröffentlichung solcher gemeinsamer Spezifikationen zu erlassen.
Die Kommission Arbeitsschutz und Normung (KAN) hat hierzu ein lesenswertes Positionspapier veröffentlicht (siehe Link unten). In der europäischen Normungsstrategie aus dem Jahre 2022 erklärte die Kommission, dass sie auf einen horizontalen Ansatz hinarbeite. Derzeit gibt es hier aber noch keine öffentlichen Entwürfe oder sonstigen Informationen. Es bleibt somit abzuwarten, wie es an dieser Stelle weitergehen wird.
Sollten Sie Gesprächsbedarf zu diesem Thema haben, nehmen Sie gern Kontakt zu uns auf.
Autor
Dipl.-Ing. (FH) Michael Loerzer
Regulatory Affairs Specialist
BEGRIFFE UND ABKÜRZUNGEN
CEN: französisch für Comité Européen de Normalisation / das Europäische Komitee für Normung
ETSI: European Telecommunications Standards Institute
Eine der drei EU Standards Organisationen (ESO)
IEC: International Electrotechnical Commission / Internationale Elektrotechnische Kommission
ISO: International Organization for Standardization / Internationale Organisation für Normung
OJEU: Official Journal EU / Amtsblatt der EU
CENELEC: Europäisches Komitee für elektrotechnische Normung